Am 15. Juli traten die Deutschen in Polozk ein, in der Stadt richtete sich die 201. Feldschutzdivision ein. Für Ordnung und für Juden war Einsatzkommando der SD verantwortlich. Anfang August gründeten die Besatzer zwei Jüdische Ghettos: Ein am Stadtrand und ein anderes in der Mitte, inklusive Kommunisticheskaja Straße und die Schule Nr. 12. Mitte September wurden alle Juden in ein neues Ghetto in einer Ziegelei neben dem Militärstädchen Borowucha untergebracht. Die Tage ihrer Erschießungen wurden die ersten Augusttage, der 21. November und der 11. Dezember 1941 sowie für jüdische Fachleute und ihre Familien der 3. Februar 1942.
Es ist völlig klar, dass Mendel Josifowitsch London das gemeinsame Schicksal der Polozker Juden teilte und bei einer von dieser Aktionen ums Leben kam.
Der schreckliche hassprägende Krieg hat Bella den Vater gestohlen, was sie lange nicht wusste, nur spürte, und verwandelte sie selbst – einst ein glückliches Mädchen – in ein unglückliches und oft weinendes Fräulein, das jetzt allein alle Fragen lösen musste.
In Smolensk machte sich Bella nach heißem Wasser auf und verpasste fast den eigenen Zug. Es gab einen Bombenangriff, nach dem die Fahrtrichtung geändert wurde. Der Zug, der in die Hauptstadt nicht gelangen konnte, setzte seine Fahrt in den Saratower Verwaltungsbezirk fort.
Vom 4. Juli bis zum 14. August 1941 arbeitete Bella als Sekretärin in der Kolchose «20 Jahre Oktober» im Bezirkszentrum Kistendej, dann im nahegelegenen Dorf Durasowka, wohin aus Moskau auch Rimma, die Schwester, kam, um dort Französisch zu unterrichten. Bella selbst wurde Sekretärin in der Durasowker Kolonie für psychisch Kranken und erlebte mit ihren Insassen alle Höllenquallen. Eines Tages fuhr sie mit paar psychisch erkrankten Patienten auf einem von zwei Ochsen gezogenen Fuhrwerk in den Wald, um Holz zu holen. Plötzlich gehorchten die Ochsen nicht, die Stimmung bei den Patienten war verdorben und sie wurden unruhig. Es war schrecklich, doch ging es alles gut aus, Gott sei Dank.
1942 wurde Bella zusammen mit Mutter und Schwester nach Ischewsk versetzt. Dorthin wurde die Moskauer Staatliche Technische Universität, wohin noch in Moskau Bellas Papiere für die Immatrikulation von Rimma abgegeben wurden. Dort, in Ischewsk, fang sie an, gleichzeitig zu studieren und als Laborantin zu arbeiteten. Alle drei Frauen fanden Arbeit in einem Wohnheim für ehemalige Verbrecher, wo sie auch wohnen durften: Die Mutter bekam die Stelle als Hausverwalterin (alle für die Mutter obliegenden physischen Arbeiten verrichteten die beiden Töchter für sie heimlich nachts), die Schwester konnte als Erzieherin dort arbeiten und Bella als Bibliothekarin. Sie wohnten zu dritt in einem kleinen Zimmer und bedankten sich jeden Tag bei Gott dafür, dass keine von ihnen drei getötet wurde. Morgens ging Bella an die Universität.
Марк и Белла Полян с сыном (1957)/ Mark und Bella Polian mit dem Sohn (1957)
Марк и Белла Полян с сыном и невесткой Соней (сер. 2000-х)/Mark und Bella Polian mit dem Sohn und Schwägerin Sonja (Mitte 2000er)
Am 17. Juni 1943 kehrte Bella mit der Universität nach Moskau zurück. Die Mutter und Rimma folgten etwas später ihr nach. Hier begann ein neues Ungemach – mit der festen Anmeldung in der Stadt. Bella wurde in Moskau als Studentin angemeldet, Rimma wurde von einer Verwandten bei sich angemeldet, zwar kostenpflichtig, aber dafür durfte Rimma in Moskau bleiben. Nur die Anmeldung von Mutter gelang trotz aller Anstrengungen nicht und ohne Anmeldung durfte sie nicht bleiben und darüber hinaus gab es für Mutter keine Brotkarte. So lebten alle drei vorübergehend nur von einer Brotkarte – Bella's Studentenkarte!
Der Chef der Passabteilung sagte zu den Fall: «Möge sie doch dorthin zurückkehren, wo sie vor dem Krieg wohnte, bitte schön!» Wohin denn? Etwa dorthin, wo das Haus abbrannte und der Ehemann ermordet wurde?
Bella wandte sich an die Redaktion der Zeitung «Roter Stern», an Ilja Ehrenburg. Der verschaffte ihr die Telefonnummer einer Person, die ihr unbedingt helfen würde. Bella machte davon aber kein Gebrauch, denn sie entschied sich für eine andere Lösung. Bella zeichnete neu und schön, in Zeichenschrift, alle Agitationstexte, die in der gesamten Passabteilung benötigt wurden, wofür der Chef der Passabteilung Elisaweta Markowna anmelden ließ. Die Mutter wurde sofort bei Bella im Studentenheim untergebracht.
Das Studentenleben und Studium beanspruchten ihre ganze Zeit und Kraft, doch Bella wollte von Theaterbesuchen nicht verzichten. Oft saß sie einfach auf den Treppen oder stand im Zwischengang: Der Eintritt kostete damals nur ein Rubel. Es gab auch genug junge Gefährten, die gerne das hübsche Mädchen einladen wollten. Darunter war auch Mark Polian, mein Vater.
Могила на Еврейском кладбище во Фрайбурге / Grab auf dem Jüdischen Friedhof in Friedhof
Es gab folgendes Schema bei diesen Einladungen: Man rief Rimma an ihrem Arbeitsplatz an und lud die jüngere Schwester ein, aber nicht früher als auf den nächsten Tag! Manchmal gab es sogar zwei Optionen zur Wahl.
Einmal war sie mit Mark in Bolschoy Theater, wo der «Fürst Igor» aufgeführt wurde. Da verkündete der Theaterdirektor, dass es eine 45-minütige Pause geben wird, da es zum Ehren des Sieges salutiert wird und alle während diese Pause nach draußen dürften. Der Krieg war vorbei!
Nachdem mein Vater meiner Mutter einen Heiratsantrag machte, hat sie «ja» gesagt und zog in das Bachruschinski Haus in Faleewskij Gasse um, wo ihr wie uns allen noch dutzend Jahre in einer klassischen, nach Ilf und Petrow, übervollen Kommunalka bevorstanden, bevor wir in eine neue vom Vater erhaltenen Wohnung auf dem Leninskij Prospekt umgezogen sind (genauer gesagt in zwei Zimmer der Dreizimmerwohnung).
Inzwischen verlief auch Mutters berufliches Leben in mehreren Abschnitten. Von der Moskauer Technischen Universität wechselte sie an die Moskauer Universität für Straßenbau, nach deren Absolvierung sie als Volkswirtin im Fuhrpark des Ministeriums für Seestreitkräfte, anschließend als Prüfer in der Kontrol– und Überprüfungsabteilung des Moskauer Straßenverkehrsamtes arbeitete. In 1969–1978 wurde sie Oberingenieurin in der Zentrale für Internationale Verkehrsverbindungen «Sovtransavto». Schon als Rentnerin arbeitete sie noch lange als Kundenberaterin bei einer Moskauer Transportagentur.
In Deutschland
Mark und Bella Polian, die gegen Mitte der 1990er in den Ruhestand gingen, beschlossen sich den Freiburger Polians anzuschließen. Am 2. November 1998 überquerten sie die deutsche Grenze. Freiburg und die Freiburger Gemeinde hatten sie schon erwartet.
Die Jahre, die sie in Deutschland verbrachten, waren, ihrer eigener Meinung nach, vielleicht die besten des ganzen Lebens. Der ruhige und geregelte Tagesablauf ohne Notwendigkeit irgendetwas zu organisieren und zu beschaffen oder Vorräte anlegen zu müssen, königliche Medizin, früher gar nicht vorstellbare Reisen durch Deutschland und europäische Länder, Nähe zum einzigen Sohn und seine Familie – alles verschaffte Gemütlichkeit und ein Gefühl der Lebensqualität, wenn auch im fortgeschrittenen Alter. Die Mutter sprach ein wenig Deutsch, der Vater lernte eifrig, jedoch ohne abschließenden Erfolg. Der in Russland noch völlig sekulär gelebte Mensch, liebte Mark im höheren Alter in die Synagoge zu gehen. Er ließ (von Tagen, an denen er krank war, abgesehen) fast keinen Gottesdienst aus, wiederholte nach dem Kantor oder Rabbiner unverstandene Worte oder Sätze und baute irgendwie seine eigene und nur ihnen beiden verständliche Beziehung zum jüdischen G-tt.
Am 2. Oktober 2011 verstarb Mark Pawlowitsch Polian, und am 30. Oktober 2012 auch Bella Markowna. Ihr Grab aus hellem rosafarbenem Sandstein auf dem Freiburger Jüdischen Friedhof ist das erste, auf dem die Namen auch in russischer Sprache eingemeißelt sind.
ЛЕВ ДАВЫДОВИЧ ПЕСКИН:«ЕСЛИ БЫ РАБОТАЛ – ВЫУЧИЛ БЫ!..»(ЛЕНИНГРАД – УСТЬ-КАМЕНОГОРСК – ЧЕЛЯБИНСК – ЛЕНИНГРАД – ФРАЙБУРГ)
Выйдешь на лестницу и узнаешь, что кто-то еще умер…
«Жид-еврей продавал червей»
Его дедушка и бабушка по матери родились в местечке Городок в Белоруссии. Дедушка Гирш умер очень рано – в 36 лет, оставив вдову, Рахиль, и шестеро сирот – четверых сыновей и двух дочерей: сводить концы с концами стало почти невозможно.
Из Белоруссии – из деревни Белодедово Городокского района – был и род по отцу. Было у них свое хозяйство и производство – шерстобитка: выделывали кожу и держали огромных лошадей. Отец, Давид Лейбович Пескин, окончил хедер, и уже при советской власти работал секретарём в сельсовете.
Где-то в середине 1920-х годов отец женился, после чего родители переехали в Ленинград и поселились у папиной сестры. Она жила на Лиговке в доходном доме и содержала что-то вроде столовой: готовила обеды для извозчиков и этим жила. Отец пошел чернорабочим на стройку (в частности, строил здание Кировского райсовета), а маму взяли на фабрику «Ленэмальер», где делали различные значки и ордена.
Лев Давидович родился уже в Ленинграде, в 1928 году (его старший брат родился тремя годами ранее, еще в Белоруссии). Но вот что младший отчетливо запомнил: в Петербурге было очень много китайцев! Столько их было, что всё было ими заполонено! Они держали будочки, где продавали игрушечные пистолеты, «браунинги» и другие игрушки. И вдруг – буквально в одночасье – году в 1932-ом или 1933-ем, они все исчезли. Куда, как?…
Затем настал черед поляков. В доме на Лиговском проспекте, где жили Пескины, их было очень много. Но в 1936-ом году поляков начали преследовать, а они стали исчезать.
И кто же следующий?
Следующим, судя по цитате из подслушанного разговора между родителями, мог быть кто угодно. Управдом по дружбе поделился с отцом, что ему велено поискать и найти несколько «врагов народа»: все остальное было бы уже не его дело.